Die Freiheit ist viel zu wichtig, um sie alleine der Politik oder gar einer einzelnen Institution zu überlassen. Politische Freiheit geht uns alle an. Der Krisenmodus, die Angst und die Polarisierung sind die Standardeinstellungen unserer Gegenwart. Von der Corona-Pandemie über den Klimawandel bis zu den neuen geopolitischen Verwerfungen mit ihren fatalen Folgen für Energieversorgung und Welthandel – allenthalben sind Europas Gesellschaften mit hochdynamischen, schwer kalkulierbaren Gefährdungsszenarien konfrontiert. Diese Konstellation birgt ein Dilemma: Einerseits steigen in Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Kultur sowohl die Erwartungen an die Problemlösungskompetenz der Politik und im Gegenzug die Bereitschaft, staatliche Institutionen mit neuer Machtfülle auszustatten bzw. bürgerliche Freiheiten abzutreten. Andererseits ist der gesamte politische Apparat in Hinblick auf personelle, informationelle Ressourcen, strategische Analysefähigkeiten und technologische Expertise extrem überlastet – und das obwohl der Professionalisierungsgrad von Mandats- und Amtsträgern selten so hoch war wie heute; die Komplexität und Interdependenz potenzieller Krisen- und Politikfelder zeigen der Gestaltungsmacht von Regierungen nach innen wie nach außen enge Grenzen auf.

Der Zusammenprall von Erwartungssteigerung und Überforderungsrisiko setzt das filigrane Gefüge des politischen Systems und der gesellschaftlichen Felder, das durch klare Aufgabenteilung und Legitimitätszuschreibungen kalibriert ist, unter Druck. Die Fragilität der Regierungen liberaler Gesellschaften sowie die Mobilisierung militanter Verschwörungstheoretiker und Staatsskeptiker sind eindeutige Warnzeichen. Auch fällt es vielen Eliten schwer, die Machtlogiken im globalen Wettbewerb anzuerkennen und existierende politische Realitäten zu akzeptieren. Verschärft werden diese Risiken durch divergierende Werte, Lexeme, Organisationsformen und Habitus zwischen den Gesellschaftsfeldern und ihren Eliten, die eine rationale Verständigung über das Gemeinwohl erheblich erschweren.

I. Fünf Herausforderungen von Politikgestaltung im 21. Jahrhundert

Damit stellen sich fünf zentrale Herausforderungen, die wir als Herausgeber des Online-Magazins Freiheit|Macht|Politik annehmen wollen:

Erstens, die Mechanismen politischer Entscheidungsprozesse in den krisengeschüttelten spätmodernen Demokratien Europas zu reflektieren und die Verantwortungsspielräume von Repräsentanten, aber auch von Führungskräften und Vordenkern in Wirtschaft, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Kultur neu zu verorten.

Zweitens, die komplexen Interaktionsmuster zwischen den verschiedenen Macht- und Gesellschaftsfelder in den Staaten Europas zu verstehen und neue Chancen für Synergien und Aufgaben- und Arbeitsteilungen durch einen multidisziplinären, transkulturellen Austausch auszuloten.

Drittens, die ideologischen Gräben entlang der großen Konfliktlinien unserer Zeit – Globalisierung, Wertschöpfung, Identität, Populismus, Schwarz-Weiß Denken etc. – zur überwinden und Missverständnissen, die teilweise an der Wurzel gesellschaftlicher Antagonismen liegen, durch Analyse ihrer Genealogie aufzulösen.

Viertens, Lösungsansätze und alternative Krisenstrategien zu entwickeln, die sich nicht in Ad-hoc-Maßnahmen erschöpfen, sondern langfristige planungs- und wahrscheinlichkeitsbasierte Vorteilsberechnungen umfassen.

Fünftens, interessierte und der Freiheit verpflichtete Menschen miteinander zu vernetzen, um den offenen, kreativen und fairen Dialog untereinander anzuregen. Gemeinsam gilt es, Verantwortung wie auch Leadership für unser Gemeinwohl in Wort und Tat zu übernehmen.

II. Macht und Freiheit als Leitbegriffe der Politikgestaltung

Dieser Reflexions-, Lösungs- und Vernetzungsprozess, den wir mit unseren Autoren und Mitstreitern initiieren, folgt den titelgebenden Leitbegriffen: Freiheit und Macht. Freiheit ist seit der Aufklärung das Alleinstellungsmerkmal der liberalen Demokratie. In dieser Staatsform treffen zwei ihrer grundlegenden Dynamiken aufeinander: die negative Freiheit von willkürlicher Intervention in die persönliche Lebensführung, die durch den liberalen Rechtsstaat garantiert wird – und die positive Freiheit zur gemeinschaftlichen politischen Selbstbestimmung, die durch egalitäre politische Partizipationsprozesse verbürgt ist. Nur wenn die gemeinschaftliche politische Selbstbestimmung gelingt, kann diese die individuellen Freiheiten jedes Einzelnen garantieren.

Macht hingegen ist das zentrale Prinzip des Politischen sui generis, und zwar letztlich im Sinne der staatlichen Monopolisierung und Organisation von Aktionsmacht – der Fähigkeit, Menschen und Dingen zu schaden, sie zu restringieren oder gänzlich zu vernichten – zur Gewährleistung von Frieden nach innen und Souveränität nach außen. Diese originär politische Macht befindet in kontinuierlicher Reibung mit anderen Machtformen, so etwa mit der ressourcenbasierten Macht der ökonomischen Sphäre oder der charismatisch-autoritativen Macht der Religion.

Freilich stehen beide Leitbegriffe im aktuellen Diskursraum nicht hoch im Kurs. Freiheit gilt vielen Vertretern eines neuen Hypermoralismus als Gegenbegriff zur Verantwortung, frei nach dem Motto: Wer auf seine Freiheit pocht, ist zu egoistisch, um seine eigenen Interessen zurückzustellen. Gleichsam hat der Begriff mit dem Aufkeimen anti-etatistischer Rhetorik eine populistische Aufladung erfahren; man denke nur an Wortungetüme wie den „Freedom Day“. Macht wiederum gilt vielen Intellektuellen als ein, wenn nicht das Grundübel aller Vergesellschaftung. Das Diktum des Kulturhistorikers Jacob Burckhardt „Und nun ist die Macht böse, gleichviel wer sie ausübe“ bildet seit über hundert Jahren das Grundrauschen des Traums einer herrschaftsfreien Gesellschaft.

Dessen ungeachtet bilden Macht und Freiheit das Fundament der modernen liberalen Demokratien. Sie sind zudem unverzichtbar für eine gemeinwohlorientierte Ordnung: Ohne Macht ist Politik unnütz, ohne Freiheit ist sie unmenschlich. Im Verbund bilden beide Prinzipien die Wertgrundlage jenes politischen Kulturraums, den wir mitunter als „den Westen“ bezeichnen. Dabei ist das Verhältnis von Macht und Freiheit durchaus vielschichtig und nicht ohne Schwierigkeiten. Einerseits ist jede Macht potenzielle Freiheitseinschränkung, insofern sie etwa die Ressourcen zur Erreichung, aber auch Frustrierung von Zielen, Wünschen und Interessen umfasst. Andererseits setzt Freiheit, wenn wir sie in Anlehnung an Hannah Arendt als das gemeinschaftliche Hervorbringen von Neuem verstehen, Macht geradehin voraus. Es ist beinahe paradox: Je näher man hinsieht desto mehr geht die Trennschärfe beider Prinzipien verloren, und sie erweisen sich als schillernd und auf vielfältige Weise miteinander verflochten. Aber dies ist aus unserer Sicht kein methodischer Makel, sondern vielmehr ein Ausgangspunkt für fruchtbare Debatten.

III. Themenfelder der Zukunft

Macht und Freiheit im Spannungsfeld der Gegenwartspolitik und ihrer mannigfaltigen Felder zu reflektieren, bietet einen neuen Zugriff auf einige der großen, schweren Fragen unserer Zeit:

Was sind die geopolitischen Parameter der europäischen und internationalen Politik im 21. Jahrhundert im Angesicht neuer imperialer Aggression, Multipolarität, der Schwäche supra- und internationaler Organisationen und eines kontinuierlichen Verschwindens freier Gesellschaften westlicher Provenienz?

Welches Machtverhältnis herrscht zwischen Politik und Forschung in einer neuen Ära der Expertokratie, in der Politik wissenschaftliche Konzepte übernimmt und Forschung zunehmend politische Entscheidungen zu übernehmen beansprucht?

Wie ist das Spannungsfeld zwischen Mensch und Macht im 21. Jahrhundert strukturiert, konkret: Wie viel Macht hat der Einzelne? Wie viel Macht hat das Kollektiv oder das System? Und ist Macht in dem Falle überhaupt noch eindeutig lokalisierbar oder vielmehr nur über Prozesse, Positionen, Konventionen, Entfremdungserfahrungen, Habitus – kurzum: Dispositive – diffus verteilt?

Welche gesellschaftlich-politische Verantwortung erwächst aus der digitalen Macht der Daten, die im 21. Jahrhundert in den Händen immer weniger großer Player versammelt sind – und wie müssen sich politische Entscheidungsträger positionieren, wenn sie als Akteure relevant bleiben wollen?

Welche Machtmechanismen liegen den gegenwärtigen Deutungskämpfen um kulturelle und geschlechtliche Identität und Aneignungsprozesse zugrunde?

Letztlich fragen wir damit nach den entscheidenden kulturellen, ethischen oder mentalen Parametern, die eine kollektives Basiskonzept zur Gemeinwohlbestimmung erst ermöglichen.

Diese fünf Fragekomplexe bilden sowohl die Programmatik der künftigen Publikationszyklen von Freiheit|Macht|Politik als auch den Orientierungsrahmen für ein Weiter-Denken von Formen und Instrument des Politischen. Und ein solches gemeinsames Weiter-Denken ist dringend geboten. Denn die großen Konfrontationen unserer Zeit – sowohl zwischen Staaten als auch zwischen Ideologien – lassen keinen Zweifel daran, dass sich zwei westliche Utopien überlebt haben: die Hoffnung auf ein Ende der Geschichte, am dem die globale wirtschaftliche und kulturelle Interdependenz der Staaten die liberale Konvergenz aller Werte und Interessen einläutet; und das Vertrauen auf den zwanglosen Zwang des besseren Arguments, das am Ende über bloße Gewalt triumphiert. Stattdessen gilt: Die Macht und ihre Logik ist zurück auf der Bühne der Weltgeschichte. Gerade der zentrale Wert der politischen Freiheit, die für uns allzu lange auf geradezu banale Weise selbstverständlich war, wird uns sukzessive und je mehr er in Frage gestellt wird wieder zu Bewusstsein kommen. Diese Krisenlage mit ungewissem Ausgang verlangt nach Orientierung, Analyse, und Lösungsstrategien – aber vor allem nach Debatte, Kontroverse und gemeinsamer Vernetzung. All dies will Freiheit|Macht|Politik bieten, und zwar in Bezug auf ein weites Themenspektrum, das wir in diesem Editorial umrissen, aber freilich nicht in seiner Gänze und Komplexität durchmessen haben. Dafür versammeln wir Stimmen von profilierten Theoretikern und Praktikern aus allen Feldern unserer Gesellschaft – auf Augenhöhe, ohne Polemik und ohne Scheuklappen.

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